In der Kreistagssitzung am 01.04.2022 stand wieder ein Resolutions-Antrag mit Bezug zum Krieg in der Ukraine auf der Tagesordnung. Die Fraktion DIE LINKE hatte beantragt, der Landkreis möge der Organisation „Mayors for Peace“ beitreten, sich für die Abschaffung aller Atomwaffen sowie gegen weitere Aufrüstung aussprechen. Etwas willkürlich und ohne unmittelbaren Zusammenhang als Punkt vier angefügt wirkte die Forderung nach klimapolitischen Zielen.
Arroganz der Macht: SPD und CDU tricksen
SPD und CDU wollten den Beitritt zu „Mayors for Peace“ offenkundig nicht. Statt aber einfach gegen den Antrag von DIE LINKE zu stimmen (wer will schon gegen den Frieden stimmen?), bedienten sie sich eines Tricks: sie stellten einen ‚Änderungsantrag‘, der den ursprünglichen Antrag ersetzen sollte. Der SPD/CDU-Antrag sprach sich allgemein gegen Atomwaffen und Krieg aus. Er war also eine Umformulierung von Punkt 3 und eine Streichung aller übrigen Punkte des Antrages von DIE LINKE.
Änderungsantrag von Dr. Michler: Waffenlieferungen stoppen
Dr. Frank Michler (Bürgerliste Weiterdenken) hat in seinem Änderungsantrag vorgeschlagen, der Kreistag möge alle Kriegsparteien zu einem Waffenstillstand und Russland zu einem Truppenabzug auffordern. Weiterhin solle Deutschland die Waffenlieferungen an die Ukraine stoppen und unter Wahrung militärischer Neutralität (die bei Waffenlieferungen nicht gegeben ist) sich in Friedensverhandlungen als Vermittler für einen Interessensausgleich einsetzen. In seiner Antragsbegründung zitierte Dr. Michler aus dem offenen Brief der „Vereinigung für Friedensrecht“ – IALANA Deutschland e.V. an Bundeskanzler Scholz.
Sitzungsunterbrechung: Ältestenrat ohne Einzelabgeordnete
Michael Meinel (Fraktionsvorsitzender der Grünen) hatte daraufhin einen Geschäftsordnungsantrag gestellt, den SPD/CDU-Änderungsantrag nicht zuzulassen, weil er zumindest in Bezug auf die Punkte 1, 2 und 4 nichts mehr mit dem Original-Antrag zu tun hatte. Der Kreistagsvorsitzende Detlef Ruffert blieb jedoch bei seiner Sicht, dass der Änderungsantrag zulässig sei. Dies änderte sich auch nicht nach einer Sitzungsunterbrechung und Beratung durch den Ältestenrat. Der Ältestenrat ist ein Gremium des Kreistages, welches den Kreistagsvorsitzenden in Bezug auf Fragen der Sitzungsleitung beraten soll. Ihm gehören laut aktueller Geschäftsordnung das Kreistagspräsidium sowie alle Fraktionsvorsitzende an. „Einzelabgeordnete“, die keiner Fraktion angehören, sind da bisher nicht vertreten.
Wie sich auch schon in anderen Situationen gezeigt hat, ist es problematisch, dass die Absprachen über das weitere Verfahren z.B. beim Umgang mit Anträgen unter Ausschluss der Einzelabgeordneten stattfinden. Dies wiegt um so schwerer, wenn – wie in diesem Fall – auch Anträge von Einzelabgeordneten betroffen sind. Dr. Michler hatte dieses Problem bereits mit einem Dringlichkeitsantrag thematisiert, der dann in der kommenden Sitzung als regulärer Antrag beraten wird.
Jugoslawienkriegs-Leugnung
In der Debatte ging Dr. Michler auf die Geschichtsvergessenheit einiger Kreistagsmitglieder ein. In der vorhergehenden Sitzung hatte der Kreistagsvorsitzende Detlef Ruffert behauptet, Putin zerstöre mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine „die seit 75 Jahren bestehende europäische Friedensordnung“ (Niederschrift vom 25.02.2022, S. 2). Dass Deutschland vor 23 Jahren mit der völkerrechtswidrigen Bombardierung von Jugoslawien (siehe Schröder vs. Josef Joffe 09.03.2014 und WDR-Doku vom 16.11.2010, „Es begann mit einer Lüge“) die europäische Friedensordnung schon zerstört hatte, ist aus Rufferts Gedächtnis anscheinend schon gestrichen.
Auch die Antragsbegründung von SPD und CDU enthält diese Jugoslawienkriegs-Leugnung:
„Kaum jemand hat es für möglich gehalten, dass Europa nach all den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege noch einmal einen Angriffskrieg erleben und die europäische Sicherheit bedroht würde.“
Pirat rechtfertigt Waffenlieferungen
Frank Lerche (Liberale und Piraten) stufte Waffenlieferungen zwar generell als „Problem“ ein. Dann rechtfertigte er jedoch die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Wenn es darum ginge, „einen Aggressor, der sich skrupellos mit brutalster Gewalt in das Land reingepresst hat, zurückzuschlagen“, solle man das anders bewerten. Man müsse das Recht haben, „sich gegen eine Aggression zu verteidigen“. Eine merkwürdige Rechtfertigung, wenn man bedenkt, dass es in Kriegsgebieten immer Aggressionen gibt, gegen die sich jemand verteidigt. Es macht einen enormen Unterschied, ob das eigene Land (oder eines, mit dem man ein Verteidigungsbündnis abgeschlossen hat) angegriffen wird, oder ob man sich in einen Konflikt außerhalb Deutschlands einmischt und sich durch Waffenlieferungen zur Kriegspartei macht.
Lerche meint jedoch, „nur das“ könne „diesen Krieg schnell beenden, wenn er nicht damit enden sollte, dass die Ukraine aufhört, als Staat zu existieren.“
Schenk (FDP) will: „Waffen, Waffen, Waffen“ für die Ukraine
Für die FDP sprach Helmut Schenk zu Schweinsberg. Er kündigte an, die FDP wolle dem SPD/CDU-Antrag gegen Atomwaffen und zur Verurteilung aller kriegerischen Auseinandersetzungen zustimmen. In seiner Rede sagte er dann wörtlich:
„Die Ukraine braucht drei Dinge: Waffen, Waffen, Waffen. Und bei der Ukrainischen Zentralbank gibt es ein Konto der ukrainischen Armee, dort kann man Spenden für die Ukrainische Armee hinschicken.“
Helmut Schenk zu Schweinsberg (FDP) am 01.04.2022 im Kreistag Marburg-Biedenkopf
Wozu bitte sollen die „Waffen, Waffen, Waffen“ eingesetzt werden – wenn nicht zu den im Beschluss verurteilten kriegerischen Auseinandersetzungen?
Abstimmungsergebnis: Kreistagsmehrheit für Waffenlieferungen?
Für den Änderungsantrag von Dr. Michler zur Forderung nach Waffenstillstand, Truppenrückzug, Stopp von Waffenlieferungen und Diplomatie gab es nur eine (seine) Ja-Stimme und eine Enthaltung (von einer Abgeordneten von DIE LINKE). Alle anderen anwesenden Kreistagsmitglieder stimmten dagegen. Bei FDP und Piraten ist die Ablehnung aufgrund ihrer Redebeiträge verständlich. Warum jedoch DIE LINKE, Grüne, Klimaliste, CDU, SPD und AfD sich nicht gegen Waffenlieferungen aussprechen wollten, bleibt unklar.
Der „Änderungsantrag“ von SPD und CDU wurde dann mit deren Mehrheit angenommen, so dass der ursprüngliche Antrag von DIE LINKE damit obsolet war und nicht mehr abgestimmt werden musste.